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Klaus Maßem: Tuschzeichnungen zu den Hexenprozeßakten der Gertrud Herrich von Niederkell (1626)

von Birgit Schwarz, Wien

Im Zentrum von Klaus Maßems Kunst steht der Mensch: inhaltlich das Individuum als Träger einer persönlichen Leidensgeschichte und formal die menschliche Figur. So auch in der Serie von 35 großformatigen Tuschzeichnungen auf Japan- und Chinapapier, die Maßem für eine Publikation der Hexenprozeßakten der Gertrud Herrich von Niederkell angefertigt hat.

Die Originalzeichnungen haben mit einer Blattgröße von 1 x 1 m ausgeprägten Bildcharakter. Die Katalogabbildungen geben sie also erheblich verkleinert wieder. Dieser Umstand legt die Frage nach dem Charakter der Zeichnungen nahe und damit auch nach dem Verhältnis von Bild und Text. Um Illustrationen im engeren Sinne – eine Bilderzählung parallel zur Texterzählung – handelt es sich nicht. Maßem greift einzelne Textfragmente auf und entwickelt seine Kompositionen als bildnerische Paraphrasen dazu. Dabei handelt es sich in der Regel um Schlüsselstellen bezüglich der physischen und psychischen Leiden der unter Anklage der Hexerei stehenden Frau. Die betreffenden Textstellen wurden zu Bildtiteln.

Der Zeichner greift zwar Textmotive auf, bleibt jedoch nicht bei einer rein stofflichen Umsetzung der Textvorlage stehen. Vielmehr bedingte der inhaltliche und emotionale Nachvollzug der Leidensgeschichte Gertrud Herrichs bestimmte Verfahrens- und damit Gestaltungsweisen und führte so zu Koinzidenzen im Ausdruckscharakter der literarischen Vorlage und der bildnerischen Umsetzung.

Klaus Maßems Zeicheninstrument ist der Pinsel. Von welcher Art dieser ist und wie naß oder „trocken“, wie schnell und in welchem Abstand zum Papier er über das Blatt bewegt wird – jedes dieser Details schlägt sich direkt in der Gestaltung nieder. Eine nachträgliche Korrektur ist – anders als bei der Bleistiftzeichnung z.B.– nicht möglich. Erschwerend kommt hinzu, daß der Pinsel - im Unterschied zum Stift - der zeichnenden Hand keinen festen Widerstand bietet. D.h. der Abstand zum Blatt, der den Charakter des Striches entscheidend mitbestimmt, muss „sitzen.“

Und wie um den Schwierigkeitsgrad der Technik noch zu steigern, benutzt der Zeichner als Bildgrund stark saugende Japan- und Chinapapiere. Will er mit dem Pinsel auf diesem Papier graphisch vorgehen, ist schnelles Arbeiten verlangt. Denn jedes Langsamer werden der Hand gibt der Tusche Zeit, sich im Papier auszudehnen, bläht also die Linie auf; ein Zögern oder Innehalten gar kann der Tuschlinie ihren Richtungscharakter vollständig nehmen. Bei der Tuschzeichnung auf jenen stark saugenden Papieren tendiert die Richtungsform Linie unweigerlich zur Flächenform; ein Arbeiten mit diesen Materialien kommt daher einem ständigen Kampf gegen die der Technik inhärente Formlosigkeit gleich. Grundsätzlich stehen dem Zeichner bei seinem Kampf zwei Strategien zur Verfügung: möglichst trockene Pinsel zu verwenden oder möglichst schnell zu arbeiten. Maßem wendet sie beide an.

Möglicherweise macht aber gerade dies den besonderen Reiz der Technik für Klaus Maßem aus, nämlich der Formlosigkeit Form abzutrotzen und damit die Ausdruckskräfte der verwendeten Materialien zu künstlerischen Ausdrucksmitteln zu steigern. Den Kampf gegen die Formlosigkeit führt der Zeichner übrigens mit unübersehbarer Lust Und da er die schwierige Technik beherrscht, ist ihm der Ausgang des Kampfes gewiß.

Die Schnelligkeit des Arbeitens ist also erst einmal eine Funktion von Technik und künstlerischer Absicht. Doch hat Maßem die Technik ja bewußt gewählt, eben um durch sie zu möglichst raschem Arbeiten gezwungen zu sein. Warum ist dem Zeichner die Schnelligkeit so wichtig? In der Malerei der Moderne ist die Schnelligkeit seit langem ein bewährtes Mittel, die rationale Kontrolle über den Arbeitsprozeß auszuschalten. Als „ecriture automatique“ wurde sie vom Surrealismus als künstlerisches Verfahren entdeckt und als malerischer Automatismus vor allem von der Malerei des Informel weiterentwickelt und verfeinert. In der schnellen Arbeitsweise kann sich der psychische Impuls direkt als physischer Impuls niederschlagen.

Aber auch wenn der Zeichenakt ganz spontan einsetzt, plötzlich und durchaus aus dem Moment heraus, heißt das nicht, daß er unvorbereitet wäre. Natürlich hat sich Klaus Maßem mit dem literarischen Gegenstand – dem Hexenprozeß – intensiv auseinandergesetzt, durch Gespräche und Lektüre. Der Auseinandersetzung mit den historischen Fakten geht eine emotionale Einfühlung einher. Während dieser mentalen Vorbereitung findet eine intensive Kontemplation des Bildgegenstandes statt. Dabei wird die Bildidee imaginativ vergegenwärtigt. Aus ihr entwickelt sich während des schnellen, automatistisch verlaufenden Schaffensprozesses das Bild.

Seinen Ausgang nimmt der Bildaufbau in der Regel von der menschlichen Figur, die als erstes entsteht. Daß Klaus Maßem den Menschen in den Mittelpunkt seiner Kunst rückt und daß er eine klassische Figurenanlage wählt, indem er die Figur von der Außenkontur her aufbaut, das vor allem macht die Klassizität seiner Zeichnungen aus. Zugleich aber unterläuft der Zeichner
diese wieder durch anatomische Verzerrungen. Die Gliedmaße sind expressiv bewegt, Hände und Füße stark vergrößert. So dienen Maßem die automatistischen Verfahren dazu, jedem Schematismus in der Figurenbildung zu entgehen. Alle Figuren ähneln sich, aber keine ist mit einer anderen identisch. Alle sind sie Individuen.

Überhaupt scheut der Zeichner das mehr oder weniger starre Regel- und Ordnungssystem des klassischen Figurenbaues, ist ihm doch jeder Schematismus suspekt. Auch die Auffassung der Bildgründe ist antiklassisch. Den gegenstandsbezeichnenden Konturlinien antwortet ein abstrakter, oft ornamentaler Grund. Er entsteht zuletzt, ist also formal eine Funktion der Figur. Allerdings fehlt ihm alles Beiläufige, Nebensächliche; im Gegenteil: oft ist er formal sogar stärker als die Bildfiguren. Dem Verhältnis von Figur und Fond eignet etwas Vexierbildhaftes. Meist wird die Figurenkontur von begleitenden, schwarzen Linien verstärkt. Sie umhüllen die Gestalten teils schützend und bergend, teils bedrohend. Bedrohlich wirken sie vor allem dort, wo sie sich zu Flächenformen aufblähen.

Die Schrecken des Hexenprozesses, ja des ganzen Hexenwahns, finden einen Widerhall in der ausdrucksstarken Bildsprache mit der zuckenden Expressivität ihrer Gestalten. Das Schreckliche
der Prozeßereignisse wird im Ornament des Bildhintergrundes aufgefangen. Dieses Bildornament ist für den Zusammenhang der Gesamtkomposition äußerst wichtig. Ist nicht auch die Rhythmik der eigenartigen, altertümlichen Sprache der Prozeßakten in einen bildnerischen Rhythmus überführt? Entsprechen nicht die motivischen Wiederholungen in den Zeichnungen den ständig wiederholten Fragen, dem Staccato der Anklagen und Unschuldsbeteuerungen des Textes, die an eine Leidenslitanei erinnern?

At the centre of Klaus Maßem's art is the human being: in terms of content the individual as the bearer of a personal tale of suffering and formally the human figure. This is also the case in the series of 35 large-format ink drawings on Japanese and Chinese paper that Maßem produced for a publication of the witch trial files of Gertrud Herrich von Niederkell.

With a sheet size of 1 x 1 m, the original drawings have a pronounced pictorial character. The catalogue illustrations are therefore considerably reduced in size. This circumstance suggests the question of the character of the drawings and thus also of the relationship between image and text. They are not illustrations in the narrower sense - a picture narrative parallel to the text narrative. Maßem takes up individual text fragments and develops his compositions as pictorial paraphrases for them. As a rule, these are key passages relating to the physical and psychological suffering of the woman accused of witchcraft. The relevant text passages became the titles of the pictures.

Although the draughtsman takes up text motifs, he does not stop at a purely material translation of the text. Rather, the reconstruction of the story of Gertrud Herrich's suffering in terms of content and emotion necessitated certain methods of procedure and thus design and thus led to coincidences in the expressive character of the literary model and the pictorial realisation.

Klaus Maßem's drawing instrument is the brush. What kind of brush it is and how wet or "dry", how quickly and at what distance from the paper it is moved across the sheet - each of these details is directly reflected in the design. A subsequent correction is - unlike with the pencil drawing for example - not possible. What makes it more difficult is that the brush - unlike the pencil - does not offer the drawing hand any firm resistance. This means that the distance to the sheet of paper, which decisively determines the character of the stroke, must "fit".

And as if to further increase the difficulty of the technique, the draughtsman uses highly absorbent Japanese and Chinese paper as a background for the picture. If he wants to use a brush to create graphics on this paper, quick work is required. For each slower hand gives the ink time to expand in the paper, thus inflating the line; hesitation or pausing can completely take away the directional character of the ink line. When drawing with ink on these highly absorbent papers, the directional form of the line inevitably tends towards the surface form; working with these materials is therefore tantamount to a constant struggle against the formlessness inherent in the technique. Basically, there are two strategies available to the draughtsman in his struggle: to use brushes that are as dry as possible or to work as quickly as possible. To a certain extent he uses both.

But perhaps this is precisely what makes the technique so appealing to Klaus Maßem, namely to wrest form from formlessness and thus increase the expressive power of the materials used to create artistic means of expression. The fight against formlessness is, by the way, fought by the draughtsman with obvious pleasure. And since he has mastered the difficult technique, the outcome of the fight is certain.

The speed of the work is therefore first of all a function of technique and artistic intention. But Maßem has consciously chosen the technique precisely in order to be forced by it to work as quickly as possible. Why is speed so important to the draughtsman? In modernist painting, speed has long been a proven means of eliminating rational control over the working process. As "ecriture automatique" it was discovered by Surrealism as an artistic method and as a painterly automatism it was further developed and refined above all by the painting of the Informel. In the fast working method, the psychological impulse can be directly reflected as a physical impulse.

But even if the act of drawing sets in quite spontaneously, suddenly and definitely from the moment, this does not mean that it is unprepared. Of course, Klaus Maßem has intensively dealt with the literary subject matter - the witch trial - through conversation and reading. The examination of the historical facts is accompanied by an emotional empathy. During this mental preparation, an intensive contemplation of the subject of the picture takes place. The idea of the picture is imaginatively brought to mind. The picture develops from it during the fast, automatic creative process.

As a rule, the composition of the picture starts with the human figure, which is the first to emerge. The fact that Klaus Maßem places the human being at the centre of his art and that he chooses a classical figure arrangement by building up the figure from the outer contours is what makes his drawings so classic. But at the same time the draughtsman undermines these again through anatomical distortions. The limbs are expressively moved, hands and feet greatly enlarged. In this way, the automatic procedures serve to avoid any schematism in figure formation. All figures resemble each other, but none is identical to another. They are all individuals.

In general, the draughtsman shuns the more or less rigid system of rules and order of classical figure construction, since he is suspicious of every schematism. The conception of the pictorial grounds is also anti-classical. An abstract, often ornamental ground responds to the contours of the object. It emerges last, and is thus formally a function of the figure. However, it lacks everything incidental, secondary; on the contrary: it is often formally even stronger than the pictorial figures. The relationship between figure and background is somewhat puzzling. The outline of the figure is usually reinforced by accompanying black lines. They envelop the figures, partly protecting and concealing, partly threatening. They appear threatening above all where they swell up into planar forms.

The horrors of the witch trial, indeed of the whole witch madness, find an echo in the expressive visual language with the twitching expressiveness of their figures. The terrible of the process events is caught in the ornament of the picture background. This pictorial ornament is extremely important for the context of the overall composition. Isn't the rhythm of the peculiar, ancient language of the process acts also transferred into a pictorial rhythm? Do not the motivic repetitions in the drawings correspond to the constantly repeated questions, the staccato of the accusations and protestations of innocence in the text, which are reminiscent of a litany of suffering?