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Vom Geistigen in der Kunst. Bemerkungen zu Zeichnungen von Klaus Maßem

von Walter Koschatzky, Wien

Die wirklichen Zeichner sind in unserer Zeit rar geworden. Sehr vieles an Neuem, Andersartigem hat Einzug gehalten. Nun ist es ganz außer jedem Zweifel, daß sich die Zeiten wandeln, daß die Formen von Gesellschaft, Wirtschaft, Technik und Kommunikation bis hin zu den heutigen Vorgängen der Globalisierung aller Arten in oft kaum vorstellbarer, ja beängstigender Veränderung begriffen sind. Also müssen auch die Künste, die Seismographen des Menschseins, solchem Wandel nicht minder entsprechen. Erfüllen sie doch nur dann einen Sinn, wenn sie Antworten auf Fragen der Zeit zu geben suchen. Das alte Tempora mutantur et nos mutamur in illis hat jedenfalls mehr Berechtigung als je zuvor. Doch ist es dazu auch recht modisch geworden, sich das Mäntelchen der Modernität umzuwerfen. Innovation ist nicht nur ein Attribut, es ist ein Kriterium geworden. Neu um jeden Preis heißt manche Parole. Man gefällt sich in Phrasen, wie etwa, daß allein „kreativer Mehrwert“ entscheide und „neue Formen der Organisation von Kreativität, in denen Schnelligkeit, Anpassungsfähigkeit und Initiative“ entstehen müßten, da wir offenbar „grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten haben: entweder an der Globalisierung teilzunehmen oder uns zu musealisieren“ (Franz Morak, bzw. Peter Weigel). Wir wollen von der Gefahr sprechen, dabei Unverlierbares aufzugeben und mit dieser Attitüde, der modernen Zeit besonders zu entsprechen, eine ganz unverantwortliche geistige Verdünnung herbeizuführen. Zu einer solchen gehört nicht zuletzt das Schwinden der Kunst der Zeichnung.

Hugo von Hofmannsthal hat in einem frühen Aufsatz zu Blättern alter Meister in einer Wiener Sammlung eine Fülle ungemein einprägsamer Worte über Zeichenkunst gefunden. „Unter allen Werken der bildenden Kunst“ heißt es hier „ist die Zeichnung von der geistigsten Natur und das geistigste Verhältnis zu ihr ist möglich. Vielfach ist sie wesensgleich den einzelnen Gedanken, den aphoristischen Äußerungen des Genius, die wir hie und da aufgezeichnet finden.-Im Vergleich mit solchen blitzschnellen Hinzeichnungen ist dann das Buch und das Gemälde irdisch und schwer.“
Nun ist wohl jedem klar, was Zeichnen heißt, nämlich mit einem Stift lineare Gebilde auf einer Fläche anzubringen. So gesagt, wäre es allerdings auch jedes sinnlose Gekritzel. Das aber kann Hofmannsthal wohl nicht allein gemeint haben. Es kommt also vielmehr auf das damit Ausgedrückte an. Die Linie nämlich besitzt sehr eigene und merkwürdige Fähigkeiten. Dem Menschen ist es gegeben, Linien als Zeichen zu verstehen, als Chiffren inhaltlich bedeutsamer Aussagen, die gewiß einen äußeren Inhalt, vielmehr jedoch vor allem ihren inneren Inhalt besitzen können. Die Fähigkeit nun, solche Zeichen in einer Weise, die wir künstlerisch nennen, zu schaffen, wie ebenso diese assoziativ zu erkennen und erlebnishaft wahrzunehmen, ist zu den höchsten menschlichen Vermögen zu zählen.

Der dabei wirksame Abstraktionsvorgang, ein Umsetzen von Zeichen zu Bedeutung, ist von sehr bedeutsamer Art. Gibt es doch in der greifbaren Welt der Wirklichkeit, in der sichtbaren Natur so gut wie ausschließlich Farbflächen, Raumtiefen und Körpermodellierungen; niemals aber besitzt ein Körper, ein Gegenstand, jene konturierende Umrißlinie, mittels derer er in der Linienzeichnung begriffen wird. Schon Leonardo da Vinci hatte die Körperlosigkeit der Linie beschäftigt: „ …non ha in sè materia o sustantia alcina…“ schrieb er. Und Heinrich Wölfflin präzisierte dies in seinem Band „Dürerzeichnungen“ mit einem berühmten Satz: „ In der Natur gibt es keine Linien!“, wobei er fortsetzte, daß Linien jedoch zwei Fähigkeiten besitzen: ein Kontur vermag sich als melodische Linie zu verselbständigen, heißt es hier, nämlich darstellen zu können und Ausdruck zu tragen: „ …schön an sich, enthält er mehr noch: die Deutung der Form.“

Von den Zeichnungen von Klaus Maßem kommt einem all das ungemein überzeugend zum Bewußtsein. In vielen thematischen Zielsetzungen gelingt es dem Künstler seine Inhalte spannungsreich mitzuteilen. Man folgt mit dem Auge den Ereignissen, die sich in figuralen Szenen entfalten. Die Kraft der schwarzweißen Liniengefüge, die in ihren Stufen raumbildend wirken und damit den Spannungsbereich ungemein vertiefen, teilt sich direkt und unmittelbar mit. So werden seine Themen zu eindrucksvollen Erlebnissen. Was mir aber noch viel wesentlicher erscheint, ist die einhergehende simultane Aussage der Liniengefüge an sich. Wie hier Erregung, Angst, Überwältigung, Hoffen und Freude als Urempfindungen des Lebens auf den Betrachter übergehen, wie hier dessen Sensibilität von Auge und Wahrnehmung gepackt wird und zum erlebnishaften Ereignis wird, das ist zeitloses Kunstgeschehen.

Hier muß wohl das grundlegend berühmte Wort des Philosophen Wilhelm Hegel einmal mehr wiederholt werden, das genau von solchem schöpferischen Tun spricht, wenn er in seiner Vorlesung über Ästhetik sagte: „ Die Handzeichnung besitzt darum höchstes Interesse, weil man darin erkennt, wie der Geist unmittelbar in die Fertigkeit der Hand übergeht…“

So wie die Linie aus der Erregung des Geistes entstanden ist, so vermag sie wieder zur Erregung des Sinnes-, also Wahrnehmungsapparates eines Betrachters zu werden. Die Aufnahme im Auge allein mit seinen ohnehin unschätzbaren physiologischen Fähigkeiten wäre indes zu wenig. Der Betrachter muß die Botschaft annehmen wollen und sie aktiv in sich weiterleiten. Entsteht Botschaft doch schöpferisch aus der ganzen Persönlichkeit eines Menschen, dessen geistige Kraft ihn eben zum Künstler macht, so vermag sie allein aufgenommen zu werden von einer ebenso ganzen Persönlichkeit, was Heißt mit seiner intellektuellen Hirnhälfte gleich wie mit seiner emotiven. Erst dann und nur dann hat Begegnung mit Kunst überhaupt Sinn. Nicht umsonst haben Rudolf Arnheim vom „creative eye“ (Berlin, 1965) oder Ernst H. Gombrich vom „forschenden Auge „ (Frankfurt, 1990) eines Kunstbetrachters gesprochen.

Nun kommt eben der schwarzweißen Kunst der Zeichnung besondere Bedeutung zu. Sie ist in etwa die Kammermusik der bildenden Kunst. Mögen andere auf die massiven Wirkungen von Großformaten, Farbkontrasten, Installationen oder Computerinnovationen setzen, die gezeichnete schwarzweiße Mitteilung kann auf Effekte verzichten. Sie verinnerlicht das Wahrgenommene, berührt und sensibilisiert. Wir wissen darüber aus der Wahrnehmungspsychologie auch wissenschaftlich längst mehr. So ging James J. Gibson (The Perception oft he Visual World, Boston, N.Y. 1950) von der Erforschung des Netzhautbildes aus, nämlich von dem Bild, welches das einfallende Licht auf dem Hintergrund des Auges formt. Die nahezu unfaßbare Abstufung und Variation der Lichtintensität wird dort zum Fundament allen Formerlebens. Es ist also neben der Linie mit ihrer eigenen Aussage das Verhältnis der Helligkeitswerte, das vom Sinnenreiz zum Erlebnis führt. Nun ist eben dies für einen Künstler wie Klaus Maßem von besonderer Bedeutung, als er sehr sensibel erspürt durch die Helligkeits- und Dunkelheitspalette seiner Mittel die künstlerische Spannung zu erzielen. Wie unendlich wertvoll dazu auch seine Entscheidung, endlich wieder das herrlichste aller alten Zeichenmaterialien, den goldbraunen Bister heranzuziehen.

Klaus Maßem verdeutlicht für mich die Hoffnung, daß Zeichnung nie aufhören werde, Träger künstlerischen Schaffens und Wahrnehmens, Mittler eines geistigen Menschseins zu bleiben.
Und wer wollte wirklich wollen, Unersetzbares zu verlieren.
The real draftsmen have become rare in our time. A lot of new and different things have entered the scene. There is no doubt that times are changing, that the forms of society, economy, technology and communication, up to today's processes of globalization of all kinds, are often in a state of almost unimaginable, even frightening change. For this reason the arts, the seismographs of humanity, must correspond to such change in the same manner. After all, they only make sense if they seek to provide answers to the questions of the time. In any case, the old saying Tempora mutantur et nos mutamur in illis is more justified than ever before. But it has also become quite fashionable to throw on the cloak of modernity. Innovation is not just an attribute, it has become a criterion. New at any price is the slogan of many. One likes to use phrases such as "creative added value" and "new forms of organizing creativity, in which speed, adaptability and initiative" must be developed, since we apparently have "basically only two possibilities: either to participate in globalization or to make ourselves a museum" (Franz Morak and Peter Weigel). We want to speak about the danger of abandoning what is undetachable and, with this attitude of particularly responding to modern times, about causing a completely irresponsible spiritual dilution. In the end, the disappearance of the art of drawing belongs to it.

Hugo von Hofmannsthal found a wealth of immensely memorable words about the art of drawing in one early essay on Old Master prints in a Viennese collection. "Among all works of fine art" it is written there, "drawing is of the most spiritual nature and the most spiritual relationship possible. In many cases it is of the same nature as the individual thoughts, the aphoristic expressions of genius, which we find recorded here and there - in comparison with such lightning-fast drawings, the book and the painting is earthly and heavy."
It is probably clear to everyone what drawing means, namely to use a pen to create linear shapes on a surface. Put this way, however, it would also be any meaningless scribbling. But Hofmannsthal could not have meant this alone. Rather, it depends on what it expresses. The line possesses very own and strange abilities. It is given to man to understand lines as signs, as ciphers of meaningful statements, which certainly can have an external content, but above all they can have an internal content. The ability to create such signs in a way that we call artistic, as well as to recognize and experience them associatively, is one of the highest human abilities.

The effective process of abstraction, a transformation of signs into meaning, is of a very significant nature. In the tangible world of reality, in visible nature, there are almost exclusively colour surfaces, spatial depths and body modelling; but never does a body, an object, possess the contouring outline by means of which it is understood in line drawing. Already Leonardo da Vinci had occupied himself with the immateriality of the line: " ...non ha in sè materia o sustantia alcina..." he wrote. And Heinrich Wölfflin specified this in his volume "Dürerzeichnungen" with a famous sentence: " In nature there are no lines", whereby he continued that lines have two abilities: a contour can take on a life of its own as a melodic line, it is said here, namely to be able to represent and to carry expression: " ...beautiful in itself, it contains even more: the interpretation of form."

From the drawings of Klaus Maßem, all this comes to consciousness in an immensely convincing way. In many thematic objectives the artist succeeds in communicating his contents in an exciting way. One follows with the eye the events that unfold in figural scenes. The power of the black and white line structures, which in their steps have a space-creating effect and thus immensely deepen the area of tension, is communicated directly and immediately. Thus his subjects become impressive experiences. But what seems to me even more essential is the simultaneous statement of the lines themselves. How excitement, fear, overwhelming, hope and joy as the primal sensations of life are transferred to the viewer, how his sensitivity is captured by the eye and perception and becomes an exciting event, is the timeless art.

Here, the fundamentally famous phrase of the philosopher Wilhelm Hegel must be repeated once again, which speaks of exactly such creative activity, said in his lecture on aesthetics: "The hand drawing is of the greatest interest because one can see in it how the mind passes directly into the skill of the hand ... "

Just as the line originated from the excitation of the spirit, so it can again become the excitation of the sensory, i.e. perceptual apparatus of an observer. The absorption in the eye alone with its already inestimable physiological abilities would, however, be too little. The observer must want to accept the message and actively transmit it within himself. If a message is creatively created from the whole personality of a person whose spiritual power makes him an artist, it can only be received by a whole personality, which means the intellectual half of his brain as well as his emotive side. Then and only then does an encounter with art has a meaning. It is not for nothing that Rudolf Arnheim spoke of the "creative eye" (Berlin, 1965) or Ernst H. Gombrich of the "searching eye" (Frankfurt, 1990) of an art viewer.

The black and white art of drawing is of particular importance. It is more or less the chamber music of the fine arts. While others may rely on the massive effects of large formats, colour contrasts, installations or computer innovations, the drawn black-and-white message can do without effects. It internalizes what is perceived, touches and sensitizes. For example, James J. Gibson (The Perception often he Visual World, Boston, N.Y. 1950) started out by researching the retinal image, namely the image that forms the incident light on the background of the eye. The almost incomprehensible gradation and variation of light intensity becomes the foundation of all experience of form. It is thus, in addition to the line with its own statement, the ratio of the brightness values that leads from the sensory stimulus to the experience. This is of particular importance for an artist like Klaus Maßem, as he feels very sensitively the artistic tension to be achieved through the palette of brightness and darkness of his means. How infinitely valuable is also his decision to finally use again the most wonderful of all old drawing materials, the golden brown Bister.

Klaus Maßem clarifies to me the hope that drawing will never cease to be the bearer of artistic creation and perception, the mediator of a spiritual humanity.
And who would really want to lose irreplaceable things.